Das sind Regeln, von denen wir hoffen, dass sie nie umgesetzt werden: Der Bundestag hat das Screening-Gesetz verabschiedet. Sie regelt, welche Patienten bei Versorgungsengpässen im Pandemiefall behandelt werden – und welche nicht.
Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen sollen nicht benachteiligt werden, wenn im Pandemiefall Behandlungsmöglichkeiten auf Intensivstationen knapp sind. Der Bundestag hat ein Ampelkoalitionsgesetz zum sogenannten Screening verabschiedet.
Der Begriff bedeutet: Wenn es nicht genügend Betten oder Beatmungsgeräte gibt, bestimmen die Ärzte, wer zuerst behandelt wird. Laut Gesetz soll sich die Entscheidung in einem solchen Fall in erster Linie an der “aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit” des Patienten orientieren. Andere Kriterien wie Alter oder Behinderung sollen keine Rolle spielen.
Keine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen
Es werde mit weiteren Pandemien und Infektionskrankheiten gerechnet, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Deshalb müsse man besser vorbereitet sein, so der SPD-Politiker. Und er betonte: Aber grundsätzlich sollte klar sein, dass Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen auch in Zeiten eingeschränkter Leistungsfähigkeit nicht benachteiligt werden.
Das Gesetz verbietet zudem ausdrücklich eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der Herkunft. Ebenfalls ausgeschlossen ist das sogenannte retrospektive Screening, bei dem die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen abgebrochen wird. Die Gesundheitskommission hatte das Gesetz diese Woche ausgearbeitet.
Der Bundestag berät und stimmt über das Sortiergesetz ab
Anja Köhler, ARD Berlin, Morgenmagazin, 10. November 2022
Kritik von Vereinen und Menschen mit Behinderungen
Behindertenverbände auf der einen und Ärztevertreter auf der anderen Seite hatten den Gesetzesentwurf kritisiert. Einige befürchten, dass die Verordnung nicht ausreicht, um behinderte Menschen vor Benachteiligung zu schützen. Andere befürchten Rechtsunsicherheit und finden einige Teile der Verordnung schwierig umzusetzen. Sie sieht unter anderem vor, dass in konkreten Konstellationsfällen bis zu drei Ärzte zur Zuteilungsentscheidung hinzugezogen werden müssen.
Das Gesetz wurde auch vom Abgeordneten des Landes Niedersachsen, Constantin Grosch, kritisiert. In einem Interview mit Daily Matters kritisierte der SPD-Politiker das verabschiedete Gesetz „erfüllt aus unserer Sicht nicht die Anforderungen an den Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung in solchen Situationen“. Gross, selbst Rollstuhlfahrer und Sprecher der Behindertenbewegung „AbilityWatch“, hatte im vergangenen Jahr mit anderen Verfassungsbeschwerde eingelegt, um dafür zu sorgen, dass ein neues Screening-Gesetz eingeführt werden muss.
Menschen mit Behinderungen seien in einer Screening-Situation weiterhin benachteiligt, Constantin Grosch, SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen
Tagesthemen 22:15 Uhr, 10.11.2022
Doch dieses Gesetz ändere nichts daran, dass „Menschen mit Behinderungen in einer Screening-Situation strukturell benachteiligt sind“. Das beunruhigt ihn sehr. Sie beziehen sich auf „die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“. Allerdings haben Menschen mit Behinderungen oft Nebenwirkungen, die diese Überlebenschance mindern. Eine „breite gesellschaftliche Debatte“ fehle.
Die Union fordert Regeln für andere Situationen
Politiker verschiedener Parteien äußerten im Bundestag die Hoffnung, dass dieses Gesetz niemals umgesetzt werden dürfe. Die Union monierte, die Verordnung solle nur für Pandemien gelten und nicht für Naturkatastrophen, Krieg oder Terroranschläge.
Die AfD sprach von Eingriffen des Staates. Das Gesetz ist Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Ärzten, denen durch bürokratische Regeln die Möglichkeit genommen werden soll, Entscheidungen zum Wohle der Patienten zu treffen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte um Klarstellung gebeten
Das Thema Triage war während der Coronavirus-Pandemie aufgrund der vollen Intensivpflege in den Fokus gerückt. Die Verordnung setzt nun eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2021 um. Das Gericht entschied, dass der Staat in der Pflicht steht, Menschen vor Diskriminierung wegen ihrer Behinderung zu schützen.
Der Gesetzgeber wurde angewiesen, entsprechende Regelungen zu treffen. Bisher gibt es keinen gesetzlichen Rahmen, aber wissenschaftlich entwickelte Empfehlungen für Ärzte. Die jetzt beschlossene Novelle des Infektionsschutzgesetzes muss noch vom Bundesrat gebilligt werden. Eine Genehmigung ist jedoch nicht erforderlich.
Das Dreiecksgesetz im Bundestag
Birthe Sönnichsen, ARD Berlin, 10.11.2022 11:19 Uhr